初期のウイルス研究の歴史について

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ZU EINIGEN VORAUSSETZUNGEN, UNTER DENEN ES ZU EINEM WECHSEL VOM BAKTERIOLOGISCHEN ZUM MOLEKULARGENETISCHEN VIRUSVERSTÄNDNIS GEKOMMEN IST

Die Geschichte der Virusforschung im 20.Jahrhundert wird gewöhnlich als kontinuierlicher Prozeß geschildert, als eine Geschichte fortschreitender Enthüllung der Virusnatur (siehe Waterson 1978: xii; Hughes 1977: 75 ff.; zur Kritik dieses Konzeptes siehe van Helvoort 1994a: 187). Unsere Analyse des Fallstudienmaterials hat aber manches erkennen lassen,  das von einem solchen Geschichtsbild wegführt. Insbesondere wurde gezeigt, daß Verfeinerung und Ausweitung der versuchstechnischen Mittel und Verfahren, worin gemeinhin die Gewähr für einen unaufhörlichen Fortschritt in der Erkenntnis der Natur gesehen wird, in betrachteten Zeitraum eher zu Rückschlägen geführt (zum Beispiel beim Aufbau der Virusklassifikation) und die Kluft zwischen den streitenden Parteien in der Virusforschung vertieft hatten. Mit dem „filtrierbaren“ Virus war etwas entdeckt worden, wovon sich nach Maßgabe der überlieferten Konzepte, die sich doch bei der Erforschung von Infektionskrankheiten zumeist bewährt hatten, kein Bild machen ließ, das alle Forscher hätten teilen können. Es kamen ganz verschiedene Interpretationen zur Natur dieser Erscheinung auf, die gegeneinander ins Feld geführt wurden. Ein experimenteller Beweis für dieses oder für jenes Konzept, den alle Forscher hätten anerkennen müssen, konnte von keiner Seite vorgelegt werden. Das heißt, die Entscheidung darüber, ob nun mit dieser oder jener Erklärung die „wahre“ Natur des Virus  am treffendsten ausgedrückt wird, ließ sich auf empirischem Wege nicht „objektivieren“. Jede Version zur Deutung des Phänomens blieb angreifbar, der Fachöffentlichkeit vorgelegte Fakten ließen sich von Opponenten häufig wieder in Fiktionen umdeuten, indem sie die Abhängigkeit der Befunde von den Beobachtungsbedingungen, die lokale Situiertheit der Experimente, die forschungstechnische Bedingtheit der Merkmalszuschreibungen u. dgl. als Fehlerquellen ins Spiel brachten. So wurden seinerzeit oftmals von bestimmten Virusforschern mitgeteilte Befunde von anderen Forschern im Ergebnis eigener Versuche nicht bestätigt bzw. die Beobachtungen konnten nicht von allen mit dem Virus befaßten Wissenschaftlern nachvollzogen werden. Oftmals wurden gegenteilige Befunde mitgeteilt, oder die Befunde, die geprüft worden waren, wurden als Artefakte gewertet. So wie für die Rechtfertigung konnten auch für die Ablehnung der debattierten Positionen Gründe verschiedener Art geltend gemacht. Zu Befunden, die zur empirischen Bestätigung eines vermuteten Zusammenhangs verwandt wurden, gesellten sich oftmals bald von anderen Forschern mitgeteilte negative Befunde. So sorgsam und überlegt die Techniken in den Versuchen auch eingesetzt worden waren, und ungeachtet dessen, daß jede Partei glaubhafte Gründe zur  Vertretung  ihrer  jeweiligen  Position  darbieten  und  mit  empirischen  Belegen  aufwarten konnte - was darin seine Erklärung findet, daß „the various opponents ,construed‘ widely diverging research objects which they identified as the ,virus‘“  (van Helvoort 1994a: 202) - sie boten zu keinem Zeitpunkt zwingende Gründe, die die Gegenpartei dazu gebracht hätten, endgültig
von Artefaktvorwürfen Abstand zu nehmen. [64] Wir wollen dies anhand einiger Beispiele illustrieren:

Zur Verteidigung des Konzeptes, daß Viren endogen entstünden, wurden häufig Befunde mit der Behauptung vorgeführt, daß man bei Organismen, die gegen exogene Infektionen geschützt worden und damit auch in allen Teilen frei von Virus gewesen seien, zumeist nach Ablauf einiger Wochen dann doch reichlich Virus nachweisen konnte. Gegen das Konzept der endogenen  Virusbildung  ließ  sich  wiederum  ins  Feld  führen,  daß  exogene  Infektionen  wegen technischer Unzulänglichkeiten bei den angestellten Versuchen gar nicht völlig auszuschließen seien und daß man mit Laboratoriumsinfektionen rechnen müsse (siehe Seiffert 1938: 9). Es gab genügend Verdachtsgründe dafür, daß das Virus schon von Anfang an in den Kulturen vorhanden gewesen war, aber in so schwachen  Konzentrationen, daß es sich einer Identifikation entzogen hatte (siehe Smith 1936). Auf solche Entgegnungen konnten Forscher, die das Virus für eine Mikrobe hielten, nicht verzichten: Mit dem Verständnis des Virus als eines belebten Agens mußte auch für ihn der Satz von der Kontinuität allen Lebens gelten.

Der Mißerfolg bei den Versuchen, Atmungsprozesse bei Viren zu belegen, führten Forscher, die das Virus für ein Lebewesen hielten, lediglich auf noch vorhandene experimentiertechnische Unzulänglichkeiten bzw. darauf zurück, daß unter den gegebenen künstlichen Versuchsbedingungen das Virus eventuell geschädigt worden sei (siehe Seiffert 1938: 7). Hingegen sahen Opponenten in dem Mißerfolg etwas, das gegen eine lebendige Natur des Agens sprach.

Der Behauptung, aus phagenfreien Kulturen (Ruhr, Typhus, Coli u.a.) nach einigen Passagen zahlreiche Phagen erhalten zu haben, was ein Beleg dafür sein sollte, daß die bakterienauflösende Erscheinung aus Bakterien allein entsteht (daß die Auflösung durch ein von den Bakterien  selbst  hergestelltes  Autolysin  bewirkt  wird),  konnte  immer  wieder  entgegengehalten werden, daß viele Kulturen von vornherein Bakteriophagen enthielten, die oft nur schwer nachzuweisen seien. Auch die von d‘Herelle behauptete völlige Bakterienauflösung wurde nicht einhellig bestätigt. So war es beispielsweise Gildemeister, der -  wie weiter oben angegebendas von d‘Herelle entdeckte Phänomen zu den Variabilitätserscheinungen der Bakterien rechnete, weder durch mikroskopische Beobachtung noch durch Anwendung histologischer Technik möglich gewesen, dieses Resultat zu reproduzieren (1923: 184 f.).[65]

Immer wieder wurden die Maßstäbe zum Streitfall gemacht, an denen die Zuverlässigkeit des Ausschlusses von Zellresten aus Tumorfiltraten gemessen wurde, die Zuverlässigkeit solcher Verfahren wie der Filtrierung, Pulverisierung oder des Einsatzes (zellauflösenden) Glyzerins bei der Behandlung von Tumormaterial vor dessen Überimpfung auf gesunde Tiere. Forscher, die in der Zelle den Ursprung des Virus sahen, konnten einwenden, daß, auch wenn sich in den Filtraten Krebsnester oder mikroskopisch als tumorverdächtig erkennbare Stellen nicht auffinden ließen, nicht auszuschließen sei, daß in der Zirkulation noch einzelne Krebszellen vorhanden  gewesen  waren  und  diese  ihren  Charakter  innerhalb  der  möglichen  Grenzen  geändert hatten. Oder man berief sich auf Erfahrungen, daß erhebliche Mengen von Krebszellen in Form von Geschwulstbrei eingespritzt werden müssen, um eine Tumorbildung zu bewirken. Es gab immer wieder Anlässe, Behauptungen anzugreifen bzw. verteidigen zu müssen, daß eine Geschwulstübertragung durch zellfreie Filtrate in Gang gesetzt und damit die Virusbedingtheit von Krebserkrankungen gezeigt worden sei.

Aussagen darüber, daß mittels Zentrifugation aus infektiösem Saft des Rous-Sarkoms gewonnene Viruselemente untereinander von gleicher Größe seien und sich in gefärbten Präparaten des ausgeschleuderten Bodensatzes als Körnchen zeigten, wurden u.a. mit dem Argument in Zweifel gezogen, daß der Umstand, daß sämtliche Teilchen untereinander gleich groß oder annähernd gleich groß sind, eine natürliche Folge der Technik des fraktionierten Zentrifugierens sei. Daß die unterstellte morphologische Homogenität der Viruselemente mit den Zentrifugierungsversuchen erzeugt worden wäre, wurde zum Beispiel mit folgenden Argumenten begründet: Man könne aus normalen Gewebsextrakten durch Ausschleudern (15000 Umdrehungen pro Minute) winzige Körperchen von gleicher Größe erhalten, die in jeder Hinsicht den Elementarkörperchen glichen, die man mit derselben Technik aus einem aktiven zellfreien Geschwulstsaft  (Rous-Sarkom)  gewinne.  Diese  Träger  der  spezifischen  Viruswirkung unterschieden sich in keiner Weise von anderen verunreinigenden Partikeln gleicher Dimension (siehe Fraenkel/Mawson 1937).

Diese Beispiele mögen genügen, um zu illustrieren, daß sich die Rätsel, die die Natur des Virus den Forschern im betrachteten Zeitraum aufgab, nicht gemäß den empirischen Erfolgen (in der Bakteriologie, der Pflanzenpathologie usw.) fortschreitend entwirren ließen. Die Verbesserung der forschungstechnischen Bedingungen, die Anhäufung empirischer Daten, die wachsende Anzahl von Virusentdeckungen - Ende der 30er Jahre waren schon weit über 100 durch filtrierbare, aber lichtmikroskopisch nicht nachweisbare Erreger hervorgerufene Krankheiten bekannt (Heilmann 1940: 65) - führten eher zur Verunsicherung dessen, was man von der Virusnatur schon zu wissen glaubte. Es schien mit der Weiterentwicklung der verwendeten Verfahren immer weniger möglich zu sein, zu sagen, wie Viren in einem ganz allgemeinen Sinne begriffen werden müßten, gleich, ob es sich nun um Tier- oder Pflanzen-, um „große“ oder „kleine“ Viren handelte. Kontroversen zum Virusverständnis wurden durch die empirischen Erfolge nicht entschärft, nicht schrittweise abgebaut, sondern immer wieder neu entfacht.[66]

Es ist nun zu fragen, wie es zum modernen (molekulargenetischen) Verständnis der Virusnatur gekommen ist, wenn es sich aus den empirischen Fortschritten der Virusforschung allein nicht ergeben haben kann. Zu einer erschöpfenden, am wissenschaftshistorischen Material geprüften Antwort auf diese Frage sieht sich der Autor dieser Zeilen noch nicht in der Lage. Dazu sind weitere aufwendige Studien erforderlich. Doch soviel läßt sich immerhin schon sagen, daß zur Herausbildung des modernen Virusverständnisses ein Prozeß beigetragen hat, in dem sich Virusforscher Begriffe aus anderen Disziplinen (der Vererbungsforschung, der Biochemie und anderer Gebiete) zunutze machten, um der Interpretationsprobleme Herr zu werden und die Positionen zu festigen, die sie in den Debatten jeweils vertraten. Sie bezogen das „Gen“ , das „Makromolekül“  oder  die  „Nukleinsäure“  in  die  Auseinandersetzungen  ein.  Das  machte  das Virusphänomen auch für Genetiker, Chemiker usw. interessant, und der Streit um dessen wahre Natur griff über den Kreis der Virusforscher hinaus.[67] Damit wurde eine Entwicklung eingelei tet, an deren Ende man die entlehnten Begriffe in einem theoretisch geordneten Verhältnis zueinander vorfindet, wie es in der modernen Fassung des Virusbegriffs zum Ausdruck kommt, ein Verhältnis, das jedoch das Resultat eines längeren Entwicklungsprozesses und nicht dessen Voraussetzung gewesen ist, der sich die Forscher erst Schritt für Schritt bewußtgeworden wären. Zunächst wurde das „Virus“ von einzelnen Forschern nur als etwas vermutet, das dem „Gen“, dem „Makromolekül“ oder etwas anderem ähnlich sei, wobei es eine Frage freien Ermessens war, ob man sich von solchen allein auf konzeptioneller Ebene konstruierten Ähnlichkeitsverhältnissen [68] leiten ließ oder nicht.

Die Motivation zu solchem Tun erwuchs aus der in den schier endlosen Debatten geborenen Einsicht, daß aus der überkommenen Praxis der Erforschung von Virusinfektionskrankheiten ein allgemein gebilligtes Verständnis der Virusnatur kaum hervorgehen würde. Mit nach Maßgabe dieses oder jenes Konzeptes strukturierten experimentellen Ergebnissen und Beobachtungen schufen sich die verschiedenen Parteien ihre je besonderen Erfahrungsbereiche, aus denen sie dann Belege zur Rechtfertigung ihres Konzeptes schöpften. Indem jede Seite ihre Herangehensweisen perfektionierte, wurde die Trennlinie zwischen den Parteien schärfer gezogen, radikalisierten  sich  die  Kontroversen.  Aber  in  diesem  Prozeß  wurden  zugleich  Bedingungen angereichert, die Forscher dazu anhielten, nach neuen Referenzaspekten des Forschens Ausschau zu halten, nach denen das Virusphänomen anders beobachtet und bewertet werden konnte, als es in der herkömmlichen Tätigkeit üblich war. Mit dem Perspektivenwechsel – mit der Betrachtung  der  Viruserscheinung  von  der  Warte  „Außenstehender“  (Genetiker,  Chemiker, Physiker usw.) – war die Erwartung verknüpft, daß sich so die Kontroversen darüber beenden ließen, ob Viren zu den Lebewesen zu rechnen oder als eine lösliche Substanz oder ein Enzym aufzufassen sind.

Daß Virusforscher Begriffe dieser oder jener Disziplin zur Bewältigung von Erklärungsproblemen zu Rate zogen, läßt sich nicht als zwangsläufige Konsequenz sehen, die sie aus den Ergebnissen ihrer empirischen Arbeit hätten ziehen müssen (anderenfalls könnte von einem Wechsel der Perspektiven keine Rede sein).[69] Es handelte sich um Begriffe, die unabhängig vom Kontext der Virusforschung entstanden waren. „...our knowledge of viruses“, so Darlington Anfang der 50er Jahre in einem Rückblick, „has grown up in the same half century as genetics. But the concepts used have been quite independent until recently“ (1951: 321). Dafür, daß die Gleichsetzung des Virus mit dem Gen wie auch mit dem Makromolekül und anderen Begriffen nicht direkt aus der empirischen Erfahrung resultierte, die man beim Umgang mit dem Virus gewonnen hatte, spricht folgendes:

Es handelt sich um Begriffe, die noch sehr umstritten waren. Die Beantwortung der Frage, ob Viren „Organismen oder ... chemische Moleküle sind ... ,  (ist) sehr schwierig, da über die Definition dieser beiden Grundbegriffe weder in der Chemie noch in der Biologie eine allgemein gültige Auffassung besteht“, so Schramm (1942b: 791).[70] Zur Anwendbarkeit des Molekülbegriffes, der von dem Verhalten einfacher chemischer Verbindungen abgeleitet worden war, auf hochpolymere organische Naturstoffe und speziell auf die kolloidal löslichen Proteine gab es kein einmütiges Urteil. Doerr zufolge, war es dem „freien Ermessen“ anheimgegeben, ob man bei Proteinen von Riesenmolekülen oder von Molekelaggregaten sprechen wollte, „zumal über die Bindungen, welche die Einheiten zusammenhalten, nicht mehr bekannt ist, als daß sie ziemlich locker zu sein scheinen und leicht gesprengt werden können“ (Doerr 1944a: 11). Ebensowenig gab es zum Genbegriff eine allgemeinverbindliche Fassung, so daß es auch in dieser Hinsicht jedem Forscher überlassen blieb, dem Virus eine Ähnlichkeit mit dem Gen zu bescheinigen oder abzusprechen. „ ... je nach der aprioristischen oder fachlichen Einstellung (wurden) bald die gemeinsamen, bald die differierenden Momente in den Vordergrund gerückt ...“ (ebenda, 63).  „Gewiß ist (nur), daß man Gene nicht ,sehen‘ kann“, wie Geitler Ende der 30er Jahre festzustellen sich genötigt sah (1939: 144), und so mußten natürlich auch all die Eigenschaften, in denen man Analogien zu den Virusarten erblicken wollte, hypothetisch sein. Es war noch fraglich, ob Gene überhaupt real oder bloße Fiktionen bzw. substanzlose Entitäten sind (siehe Morgan <1933> 1965: 315), zumal man sich auch der Wege zu ihrer empirischen Erforschung nicht sicher war, die hätten beschritten werden können.    „  ... das von der Genetik in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts verwendete Material (gestattete) weder, die Substanz (die Gene -K.L.) zu untersuchen noch ihren Wirkungsmechanismus zu erforschen“, so Jacob (1972: 278). Und Schrödinger (1951: 13): „Nach der Wiederentdeckung der Mendelschen Regeln ... hatte sich die Wissenschaft der klassischen Genetik herausgebildet, die ... sozusagen alles über die Fähigkeiten des Erbmaterials in Erfahrung gebracht hatte, aber nichts über die Natur der Gene selbst wußte.“
 
 Deshalb gab es natürlich auch etliche Forscher, die eine Ähnlichkeit des Virus mit dem Gen oder dem Makromolekül bestritten. So hielt es beispielsweise Darányi für abwegig, in Viren lediglich Makromoleküle zu sehen, „da Molekül ein chemischer Begriff ist und keine Lebenseinheit. Das Eiweißmolekül lebt nicht. Um leben zu können, muß es auch andere Stoffe (Lipoide, Salze, Kohlenhydrate usw. – K.L.) enthalten, obgleich hierdurch seine Größe nicht wesentlich verändert wird“ (Darányi 1937: 1267). Auch Doerr (1944a: 49) wandte sich gegen das Riesenmolekül-Konzept. Es sei absurd, beispielsweise den Erreger der Psittacose als Riesenmolekül zu deuten. „Nicht nur die Größe dieser Elemente ... wäre mit einer solchen Auffassung unvereinbar, sondern auch der ... hochgradige Pleomorphismus“. Und Befürwortern der Gleichsetzung des Virus mit dem Gen wurde u.a. entgegengehalten: Gene finde man „in jedem lebenden Organismus, der sich fortpflanzt und seine Eigenschaften an seine Nachkommen weitergibt. Virusproteine ... kommen nur in kranken Organismen vor. So gestellt, ist die Frage nach der Analogie dieser beiden Elementareinheiten also falsch“, so Kausche (1939: 73). Doerr hielt Forschern, die an der vermuteten Ähnlichkeit des Virus mit dem Gen festhielten, vor, sie hätten „alle Einwände, welche sich der Identifizierung von Viruspartikel und Gen entgegenstellen, durch hemmungsloses Türmen von Hypothesen zu überbrücken gesucht“ (1944a: 69).
 
Anhänger des mikrobischen Virus-Konzeptes sahen im Rückgriff auf den Gen-Begriff der Vererbungsforschung eine Möglichkeit, das ihnen von ihren Kontrahenten vorgehaltene Argument zu entkräften, daß sich die Winzigkeit der filtrierbaren Viren mit der Komplexität und Qualität der Organisation nicht vereinbaren lasse, die gemeinhin als Merkmale von Lebewesen galten. Wie konnte ein so winziges Partikel wie das Virus all jene Teilstrukturen beinhalten, die die Träger der mannigfaltigen Lebensfunktionen (Atmung, Assimilation und Dissimilation, Vermehrung, Vererbung) sind? Burnet und Andrewes wiesen 1933 darauf hin, daß das einzelne Virusteilchen  der  Maul-  und  Klauenseuche  nicht  größer  als  10-20  Hämoglobinmoleküle  sein könne. Sie fanden es schwierig zu verstehen, wie ein Partikel, das aus so wenigen Molekülen besteht, so organisiert sein kann, „um alle komplexen Funktionen eines lebenden, selbständigen Organismus erfüllen zu können“ (1933: 167).[71] Die These, daß das Virus dem Gen ähnlich sei, schien nun solche Fragen gegenstandslos zu machen: So klein Gene auch sind, Vererbungsforscher sprachen ihnen den Rang von Lebenseinheiten zu. Sie wurden nicht nur als bloße Bestandteile der Zellsubstanz, sondern als eine Fundamentaleigenschaft der lebendigen Substanz dargetan.[72] An geeigneten Objekten (Gameten von Drosophila melanogaster) waren Anfang der 30er Jahre Durchmesser des Volumens der Gene ermittelt worden, die den Dimensionen der kleinsten bis mittelgroßen Viruselemente entsprachen, womit ein Berührungspunkt gegeben war. Auch gewisse Eigentümlichkeiten des Bakteriophagen, die den Anhängern der Lebewesentheorie Schwierigkeiten bereitet hatten, ließen sich, so Bail 1925, im Lichte des Genbegriffs erklärbar machen: Gene nähmen „in der neueren Erblichkeitsforschung wirklich eine sehr selbständige Stellung ein, erscheinen fast wie Organismen im Organismus“, wie er (bezugnehmend auf einen von Muller 1922 verfaßten Aufsatz) schreibt. „Dadurch werden Eigentümlichkeiten des Bakteriophagen verständlich, die ihn einerseits einem Organismus ähnlich erscheinen, anderseits wichtige Kennzeichen eines solchen vermissen lassen“, wie das Fehlen einer selbständigen Vermehrung (1925: 15). „Es scheint“, so Darányi 1937, „als ob eine solche Einheit als Gen, Virus, Phag im allgemeinen die kleinste Einheit des Lebens ist“ (1937: 1267). Der analogisierende Rückgriff auf das Gen-Konzept wurde dadurch gefördert, daß die Vererbungsforschung den Genen einen hohen Grad von Autonomie und Stabilität zuerkannte, der mit einer gewissen, alle Organismen auszeichnenden Plastizität einherging. Die Gene konnten unter artifiziellen Bedingungen (beispielsweise durch Bestrahlung) zur Variation veranlaßt werden, so wie sie auch spontan variieren (Mutation). Und in physiologischer Hinsicht bot sich das Wachstum der Gene in den Zellen als Vermehrung individueller Einheiten dar, worin etwas der Virusvermehrung  sehr  ähnliches  gesehen  werden  konnte.  Und  daß  die  Gene  im  Verlaufe  der Vermehrung - beurteilt nach ihrer phänotypischen Auswirkung - eine erhebliche Zähigkeit in der Bewahrung ihrer Eigenschaften bekundeten, kombiniert mit einem gewissen Grad von Veränderlichkeit, wie er in den spontanen und experimentell induzierten Mutationen zum Ausdruck  kommt,  half  Virusforschern,  sich  den  Zusammenhang  zwischen  konstanten Eigenschaften des Virus und der Stabilität bzw. Veränderlichkeit der Symptome verständlich zu machen (siehe Melchers 1960: 97).[73]  Den Grund hierfür sah Kausche darin, daß die Viren ebenso wie die Gene im Organismus „eine Reaktionskette einzuleiten vermögen, an deren Ende ein manifest gewordenes Merkmal, eben das Symptom, steht“ (Kausche 1940: 362).

Entwicklungen der experimentellen Vererbungsforschung schlugen sich auch in der Krebsforschung nieder. Zunächst gelangten die klassischen Ideen der Genetik zur Geltung: Eines der vorherrschenden Themen war die Idee, daß durch pathologische Zellteilungen Zellen entstehen können, die weiter lebens- und vermehrungsfähig sind und die Eigenschaften besitzen, die sich an Geschwulstzellen beobachten lassen, daß es möglich ist, daß ein Faktor innerhalb der Zelle existiert, der an der Tumorbildung wesentlich beteiligt ist. Anfang dieses Jahrhunderts nannte man diesen Faktor „Chromosom“ (bei der Kernteilung beobachtete Strukturen). Und so wurde Krebs als etwas interpretiert, das von mißgebildeten Chromosomen im Zellkern abhängig sei (siehe Boveri 1914; ders.,1929). Im einzelnen besagt dieser (als „somatische Theorie der Zellmutation“  beschriebene)  Ansatz  etwa  folgendes:  Durch  chronische  Reizung  wird  eine  bestimmte  Änderung  im  Chromosomengehalt  der  Zellen  hervorgerufen,  was  die  abnorme Wucherung, die Emanzipierung der Geschwulstzellen von den übrigen Körperzellen, die Änderung der Zellfunktion, die Vererbung der neuen Eigenschaften auf alle aus solchen Zellen neuentstandenen Zellen erklären soll. Als später die auf den Chromosomen liegenden Gene die Träger der Erbanlagen sein sollten, statt das ganze Chromosom als eine einzelne Entität aufzufassen (siehe Sutton 1902; Hinweis aus: Jahn et al.1982: 465 f., 737; Boveri 1909), konnte Krebsbildung, ausgehend von der allgemeinen Vorstellung, daß es sich bei ihr um  eine irreversible Veränderung der vererbbaren Charakteristika einer Zelle handele, nunmehr als Mutation von Genen gesehen werden. Es wurde eine genetische Übertragung von Geschwulstmerkmalen ins Auge gefaßt.[74]

Jene Forscher, die der Anschauung zuneigten, daß das Virus kein lebender Organismus, sondern ein enzymartiger Stoff sei, und daß es eines Tages gelingen werde, ein chemisch reines Virus zu gewinnen, erhofften sich vor allem von Fortschritten der Makromolekularchemie eine Erweiterung der Kenntnisse zur Virusnatur (siehe Schmidt-Lange 1943: 711). Wenn es auch eine diskutable Überlegung war, daß die Virusproteine ebenso wie jene anderer Eiweißkörper aus einer Anzahl von gleichen Untereinheiten zusammengesetzt seien, gab es doch keine Übereinstimmung in der Auffassung der Struktur, Größe und dem gegenseitigen Verhältnis der Einheiten. Die Biochemie war in den ersten Jahrzehnten des 20.Jahrhunderts maßgeblich auf die Kolloid- und Aggregattheorie der lebenden Eiweiße festgelegt, die besagte, daß Proteine und Proteide im Protoplasma lebender Zellen als Aggregate kleiner Moleküle vorlägen. Verbreitet war die Vorstellung, daß das Kolloidstadium der Eiweißverbindungen als Spezifikum der lebenden Zellen zu betrachten sei, auf das die chemischen Gesetze nicht voll anwendbar seien. Und so gab es seinerzeit auch keinen vertretbaren Grund dafür, die physiologischen Prozesse der Zelle, die intrazellulären Erscheinungen und die Funktion des Zellkernes bzw. seiner stofflichen  Komponenten  konsequent  auf  chemische  Gesetzmäßigkeiten  zurückzuführen  (siehe Olby 1974: 19). Für die Theorie der endogenen Virusproduktion ließ sich ein Zugewinn an Plausibilität erwarten, wenn es tatsächlich gelingen sollte, einige Virusarten in Form von makromolekularen Proteinen darzustellen, das heißt, von Proteinen, deren große Moleküle im Lösungszustand  sich  mit  den  Viruselementen  identifizieren  lassen.  Die  Annahme,  daß  Viren spontan in Wirtskörpern aufträten, ohne daß es exogene Infektionen gegeben habe, gewann an Anziehungskraft, nachdem es Stanley 1935 gelungen war, das Tabakmosaikvirus in kristalliner Form darzustellen. Das Virus bot sich ihm als etwas dar, das sich in allen Eigenschaften wie ein chemisch reiner Eiweißstoff verhielt, was dem Verständnis des Virus als eines Lebewesens zuwiderlief. Isolierten Eiweißmolekülen ließen sich ja die Fähigkeit zur Ernährung, Vermehrung, Vererbung und Anpassungsfähigkeit absprechen Die Fähigkeit, zu kristallisieren, wurde Organismen im allgemeinen abgesprochen. Man verwies darauf, daß der Aufbau eines Kristallgitters eine weitgehende Übereinstimmung und eine große Regelmäßigkeit im Aufbau der Einzelteilchen voraussetzt, die chemische Zusammensetzung des Agens müßte sich aber, sollte die Lebewesen-Theorie richtig sein, durch eine gewisse Variabilität bzw. die Viruspartikel müßten sich durch eine gewisse Heterogenität auszeichnen.

Mit der Entlehnung von außerhalb der Virusforschung vorgefundenen Begriffen kam es nicht sogleich  zu  einer  Einebnung  der  Kluft  zwischen  den  verschiedenen  Gruppen  dieser  Forschungsrichtung. Die Fronten verhärteten sich eher noch, es kam zu einem Aufeinanderprall genetischer  und  biochemischer  „Erfahrungsbereiche“  bei  der  Deutung  und  Erforschung  der Virenherkunft und –wirkung.[75] Und doch leitete dies eine Entwicklung ein, in deren Ergebnis die strittigen Fragen gegenstandslos wurden. Mit der Hinwendung zum „Makromolekül“ erschien die Frage, ob es sich bei dem Virus um ein „contagium fixum“ oder um etwas Lösliches handelt, in einem anderen Licht. Im Lichte fortgeschrittener kolloidchemischer Vorstellungen hatten beide Versionen ja etwas für sich. Wenn man sagen konnte, daß sich das Virus in einem molekulardispersen Zustand befinde, dann ließ sich die Alternative - flüssiger Ansteckungsstoff oder korpuskulärer Erreger - als eine Folge des nun überwundenen Entwicklungstandes der Kolloidchemie des 19.Jahrhunderts auffassen. Weder die Gleichsetzung des Tabakmosaikvirus mit Enzymen (Woods 1899) noch das Verständnis des Virus als eines für Tabakpflanzen äußeren pathogenen Erregers (Ivanovskij 1902) können in der Rückschau als schlechthin falsch beurteilt werden (siehe Wegmarshaus 1985: 78 f.): Stofflich gesehen sind sowohl Enzyme als auch Viren Eiweiße, wenn auch mit unterschiedlichem Molekulargewicht, und Viren sind Eiweißkörper mit einem RNA- oder DNA-Anteil, jedoch  kein pflanzeneigenes Enzym. Das Virus  ist  tatsächlich  ein  korpuskuläres  Agens.  Von  kolloidchemischen  Überlegungen ausgegangen, hatte aber auch Beijerincks These vom flüssigen Ansteckungsstoff etwas für sich - das Virus befand sich in einem molekulardispersen Zustand. Im Lichte veränderter konzeptioneller Leitlinien ließ sich weder die Organismus- noch die Molekül-Hypothese länger uneingeschränkt vertreten.[76] „The word organism demands“, so Bawden (1964: 12; Hinweis aus: van Helvoort 1994a: 217), „a wealth of independent metabolic activities there was never any reason to assume viruses possess, and the word molecule implies a precise knowledge of chemical composition impossible to get with particles as large as viruses, and demands an unchangeable structure that conflicts strikingly with the great mutability of viruses.“

Mit besagten Gleichsetzungen waren zunächst nur symbolisch vermittelte Transformationsverhältnisse zwischen verschiedenen Gebieten geschaffen worden, die jedoch ein neues Entwicklungspotential  für  die  empirischen  Prozesse  freilegten,  für  Prozesse,  die  zu  operationellen Kohärenzen von zuvor voneinander unabhängigen Erfahrungsbereichen führten. Es kam zu einem Methoden- und Verfahrenstransfer (siehe Kay 1993: 5), zu einem Transfer, mit dem die vorher nur vermutete Gleichbedeutung etwa von Virus und Makromolekül praktisch festgestellt werden sollte.[77] Daß die im behandelten Fallbeispiel auf textsprachlicher Ebene eingeleitete  Konvergenz  von  Forschungsrichtungen  verschiedener  Disziplinen  dazu  anhielt,  sie  auf forschungspraktischer Ebene fortzuführen, wird beispielsweise in einem Aufsatz Kausches aus dem Jahre 1940 deutlich: Er schreibt, daß, wenn man schon nach Analogien allgemeiner und besonderer Art zwischen Genen und den Virusproteinen suche, dann müßten derartige Überlegungen auch „nach der strengen Definition der Genetik“  experimentell zu der Konsequenz führen, „daß man 1. zu versuchen hat, die spezifischen Eigenschaften, d.h. die Wirkungsweise oder doch den Wirkungserfolg eines Virusproteins, mit seinen definierten physikochemischen Konstanten kausal zu verknüpfen; 2. haben Untersuchungen über Analogien zwischen Gen und Virus  das  Ziel,  den  Wirkungseffekt  des  Virusproteins  durch  übersehbare  Eingriffe  so  zu verändern, daß dieser sich physikalisch-chemisch nachweisen läßt. Dazu muß zunächst das Endglied der Reaktionskette, nämlich das Symptombild, in veränderter Form manifest werden, und mit einer Veränderung der physikochemischen Eigenschaften des Wirkkörpers gepaart gehen. Bei der relativ großen Plastizität der Testobjekte gegenüber dem Virusinfekt müssen solche  künstlich  hervorgerufenen  Modifikationen  so  fest  induziert  sein,  daß  sie  den  strengen Anforderungen der Genetik im Sinne von Mutationen entsprechen, d.h. sie müssen weitgehend konstant bleiben“ (Kausche 1940: 362 f.). Daß mit Entlehnungen Konsequenzen in methodischer und anderer Hinsicht der entlehnenden Forschungsrichtung erwachsen, kann auch im Hinblick auf die Folgen gezeigt werden, die heraufbeschworen wurden, als man sich darauf verständigt hatte, Viren makromolekularen Nucleoproteinen gleichzusetzen: Bei den Anstrengungen etwa, die Hypothese endogener Virusentstehung plausibel zu machen, konnte man sich nicht mehr damit begnügen, davon auszugehen, daß ein aus Nucleoprotein bestehendes Gebilde der Wirtszelle unmittelbar, das heißt, ohne chemische Umgestaltung in ein Viruselement umgesetzt werde. Der Gedanke sei biologisch untragbar, „daß ein der Wirtszelle angehörendes Teilchen durch den Einfluß eben dieser Zelle direkt bzw. ohne Änderung seiner Dimensionen, seiner Farbreaktionen und seiner chemischen Konstitution in ein vermehrungsfähiges, übertragbares und spezifisches Agens mit allen Qualitäten eines pathogenen Keimes umgewandelt wird ... Wie die Dinge jetzt liegen, läßt sich die Hypothese von der endogenen Virusbildung nicht  morphologisch,  sondern  lediglich  durch  Argumente  anderer  Art  begründen“  (Doerr 1944a: 25).

Mit der Entlehnung von Konzepten anderer Disziplinen gewannen die damit verbundenen Forschungsprobleme auch eine Wirkung im eigenen Fachgebiet, und es entstand ein Druck, sich bei eigenen Untersuchungen auch an den Verfahrensweisen und Fragestellungen der fremden Disziplin  zu  orientieren.  Denn  für  eine  überzeugende  Präsentation  von  Konzepten  fremder communities als etwas, das zu den Voraussetzungen, den Leitlinien der eigenen Faktenproduktion gehört, müssen die Forschungsergebnisse als etwas dargeboten werden, das sich auch im Bezugssystem der jeweiligen community bewerten und rekonstruieren läßt. Und dies bedeutet in der Konsequenz, daß die eigenen experimentellen und Beobachtungsbefunde in solche jener community  übersetzbar sein müssen, deren Konzepte man herangezogen hat. Erst so läßt sich glaubhaft machen, daß eine solche Bezugnahme die notwendige Voraussetzung für die Erreichung der Forschungsziele gewesen ist und zu den Beobachtungsbedingungen der behandelten Forschungsgegenstände gehörte. Man darf annehmen – was allerdings durch weitergehende Analysen des wissenschaftshistorischen Fallbeispiels  geprüft werden muß – , daß die Kontroversen in der Virusforschung in dem Maße gegenstandslos wurden, wie aus den zunächst ja nur vermuteten, in den Debatten erwogenen Ähnlichkeitsverhältnissen zwischen Virus einerseits und dem Gen, dem Makromolekül usw. andererseits Konsequenzen in empirisch-praktischer Hinsicht gezogen wurden, wodurch die Virusforschung auch im Labor aus dem Bannkreis herkömmlicher Herangehensweisen heraustrat, mit denen die Erklärungsprobleme zur Virusnatur nicht bewältigt werden konnten.